Stigmatisierung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen: Beständigkeit und Wandel
DATUM: | Samstag, 03. März 2018 |
ZEIT: | 10:30 – 12:30 Uhr |
RAUM: | L 113 |
PLANUNG UND MODERATION: | Irmgard Vogt (Frankfurt), Jeannette Bischkopf (Kiel) |
Download Referat Irmgard Vogt (PDF)
Download Referat Olivia Peter (PDF)
Download Referat Uta M. Walter (PDF)
Download Referat Regina Kostrzewa (PDF)
Stigmatisierung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen ist ein Thema, das die Gesellschafts- und Sozialwissenschaften spätestens seit der Veröffentlichung von Goffman’s Buch „Stigma“ im Jahr 1963 beschäftigt. Aktuelle Studien zeigen, dass sich in der westlichen Welt Ausmaß und Art der Stigmatisierung
verändert haben. Einerseits hat die Stigmatisierung von Menschen mit Diagnosen aus dem Bereich der Affektiven Störungen, Angststörungen und Essstörungen abgenommen, diejenige von Menschen mit Schizophrenie-Diagnosen und von Menschen mit Suchterkrankungen hingegen zugenommen. Daraus könnte man den Schluss ziehen, die Anti-Stigmatisierungs-Bemühungen der letzten Jahrzehnte seien teilweise erfolgreich. Menschen mit psychiatrischen Diagnosen befürchten dennoch weiterhin Ablehnung und vielfache Formen von Stigmatisierung, wenn sie ihre Krankheiten offenlegen. In stark abgeschwächter Form findet man Vorurteile und Tendenzen zur Stigmatisierung auch bei Fachkräften, wie Ärzt*innen, Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen, bei Pflegekräften in der ambulanten und stationären Versorgung – obwohl sie in Kontakt mit Menschen mit psychischen Störungen stehen und ein fundiertes Wissen über die entsprechenden Störungen haben. Stigmatisierung ist demnach nicht nur ein Problem gesellschaftlicher Wahrnehmung, sondern auch das von Fachkräften. Hinzu kommt, dass sich mit den neuen Medien die Möglichkeiten verändern, Personen oder Gruppen zu stigmatisieren. Es entstehen jedoch auch neue Möglichkeiten für Anti-Stigmatisierungs-Kampagnen sowie die Selbsthilfe von Betroffenen, sich gegen Stigmatisierungen zu wehren. Diese aktuellen Ergebnisse und Entwicklungen wollen wir in diesem Symposium zur Diskussion stellen.
REFERATE:
Irmgard Vogt (Frankfurt)
Gesundheitsberufe und stigmatisierende Tendenzen gegenüber psychisch Kranken: Ein systematischer Überblick
Angehörige von Gesundheitsberufen teilen mit der Allgemeinheit eine Reihe von Urteilen und Vorurteilen. Das gilt auch hinsichtlich psychischer Erkrankungen. In einem systematischen Review werden Studien vorgestellt, in denen positive und negative Einstellungen von Mitgliedern von Gesundheitsberufen (PsychiaterInnen, PsychologInnen, Pfl egeberufe, SozialarbeiterInnen etc.) untersucht worden sind. Pauschal genommen weisen die Ergebnisse darauf hin, dass insbesondere PsychiaterInnen und PsychologInnen, die mit psychisch Kranken arbeiten, weniger Vorurteile gegenüber dieser Personengruppe haben als die Allgemeinbevölkerung. Einige von ihnen haben ebenso wie relativ viele Pflegende und Angehörige anderer Gesundheitsberufe Vorurteile gegenüber psychisch Kranken. Sie tendieren dazu, psychisch Kranke zu diskriminieren und zu stigmatisieren. Das wirkt sich negativ auf die Behandlungen der Kranken aus, die die Diskriminierungen und Stigmatisierungen nicht nur wahrnehmen, sondern darauf oft mit Vermeidung oder dem Abbruch der Behandlung reagieren. Es kann dann zu Selbstverletzungen und massiven Selbstgefährdungen kommen. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass die Vorurteile von Angehörigen der Gesundheitsberufe gegenüber psychisch Kranken mit dazu beitragen, dass die Lebenserwartungen psychisch Kranker verkürzt sind.
Olivia Peter (Esslingen), Johannes Jungbauer (Aachen), Johanna Lang, Katharina Stein, Katharina Wirth
Mit der Diagnose umgehen lernen: Stigma-Coping und Recovery
In dem Vortrag werden Ergebnisse einer qualitativen Studie vorgestellt, in der untersucht wurde, wie psychisch erkrankte Menschen ihre Diagnose erleben und damit umgehen. Hierfür wurden 16 qualitative Interviews geführt und inhaltsanalytisch ausgewertet. Es wurde deutlich, dass viele Betroffene aufgrund ihrer Diagnose Ablehnung und Stigmatisierung erfahren. Einige sehen die Diagnose jedoch auch als Orientierung und Anhaltspunkt für Veränderung. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Diagnose ist ein wichtiger Schritt im Recovery- Prozess und scheint sehr eng damit verknüpft zu sein, ob, wie und mit wem Menschen über ihre Diagnose sprechen (können). Aus diesen Ergebnissen wurde das Konzept „Diagnosis Talk“ mit entsprechenden Handlungsempfehlungen für die Praxis abgeleitet. Mit der Diagnose umgehen zu lernen, ist für Betroffene ein komplexer, identitätsbezogener Prozess, der mit entsprechenden Beratungsangeboten unterstützt werden sollte und kann.
Uta M. Walter (Berlin)
PowerPlay – (Klinische) Soziale Arbeit im Zwiespalt
Soziale Arbeit und ihre in Deutschland noch relativ junge Variante der Klinischen Sozialen Arbeit, bewegt sich als transdisziplinär verortete Profession zwischen verschiedenen Erwartungen und Ansprüchen, auch nicht zuletzt den eigenen. In der Arbeit mit Menschen, die psychiatrisch diagnostiziert und in der Folge oft
auch stigmatisiert sind, findet sich Soziale Arbeit regelmäßig im Zwiespalt: zwischen an sie delegierte und eigenen Aufträgen, zwischen politischem Empowerment und individualisierter Stigmabewältigung, zwischen kritischer Auseinandersetzung mit Machtdynamiken und der eigenen Verstrickung darin. Wie lässt sich diese Spannung des Zwiespalts verstehbar und fruchtbar machen? Und wie kann sie auch dabei helfen, die Rolle (Klinischer) Sozialer Arbeit im Arbeitsfeld psychiatrischer Hilfen zu konturieren?
Regina Kostrzewa (Kiel)
Stigmatisierung durch Präventionsarbeit – Strategien zur Entstigmatisierung
Prävention und Gesundheitsförderung können durch abschreckende, stereotypisierende Elemente stigmatisierend wirken und die Zielgruppen ausgegrenzt bzw. abgewertet werden. Im Rahmen selektiver Prävention besteht die Gefahr, dass allein durch eine erhöhte Risikoexposition die Zielgruppe, ohne dass diese Verhaltensauffälligkeiten zeigt, schon als „Risikoträger identifi ziert wird“. Wicki et al. (Zürich 2000) ermitteln bei 25% der sekundärpräventiven Programme eine Zunahme des Substanzkonsums der Jugendlichen und begründeten den negativen Effekt durch Etikettierung der Zielgruppe als Risikojugendliche und den vermehrten Kontakten mit anderen riskant konsumierenden Peers. Als Ursache
für unerwünschte Programmergebnisse (Dishion, 1999) wird der „deviant talk“ benannt, wodurch sich die Jugendlichen gegenseitig innerhalb der Gruppe in ihrem abweichenden Verhalten bestärken. Sobald Fachkräfte im Rahmen der Risikobewertung Zusammenhänge konstruieren und Werturteile fällen, greifen soziale Stigmata und Gefährdungsannahmen unrefl ektiert ineinander. Mit diesen Labeling- und Stigmatisierungseffekten muss sich eine zeitgemäße stigmafreie Prävention auseinandersetzen. Entsprechend einer checklistenbasierten Strategie wurde im Rahmen von leitfadengestützten Experteninterviews ein erster Stand entstigmatisierender Suchtprävention in Deutschland ermittelt. Der Fokus liegt hierbei auf Ressourcenorientierung, Partizipation und Empowerment, weg von einer defizitorientierten Sichtweise, hin zu einer resilienzfördernden Prävention. Anstelle negativer Bewertungen sollten ressourcenfördernde Ansätze im Mittelpunkt stehen. Die aktuellen Ergebnisse und ermittelten Strategien sollen im Symposium vorgestellt und diskutiert werden.